Dies ist ein Test
Alma T. ist 2015 nach Dresden gezogen, da war sie 23 Jahre alt. „In dieser Zeit war das Industriegelände für mich der Stadtteil mit den Clubs in den runtergerockten Fabrikhallen. Ich habe dort lange Nächte gefeiert und schöne Erinnerungen mitgenommen.” sagt sie. Seit zwei Jahren lernt sie mehr über die Vergangenheit des Ortes. Als Restauratorin ist sie Teil der Gruppe Fragmente und Frequenzen. Seitdem verbindet sie mit dem Gedanken an das Industriegelände manchmal als Erstes einen Ort, an dem Zwangsarbeiter:innen im großem Stil ausgebeutet wurden, an Baracken aus Holz, in denen sie untergebracht waren, und Fabriken, die immer mehr Arbeitskräfte brauchten und auf Kriegsgefangene zurückgriffen. Wo genau das alles passiert ist? In welchen Gebäuden? Ach so? Dort, wo damals der Lab Circus war, war das Hauptgebäude der Firma Radio Mende. Und dort saß die Werksleitung? Wie? Ein Schreibtisch aus dem Sekretariat existiert heute noch? Krass! Und die Baracke am Sportplatz vorne, die wurde während der DDR dann als Gaststätte genutzt? Das klingt absurd. Wer waren die Menschen, die hier arbeiten mussten? Alma spricht weiter: „Ich kann viele Gesichter von Frauen ganz verschiedenen Alters sehen. Viele jünger oder etwa so alt wie ich.” Von vielen Personen ist noch ein sogenanntes „Arbeitsbuch für Ausländer" der Firma Radio H. Mende & Co. im Hauptstaatsarchiv Sachsen erhalten. Was ist aus den Menschen geworden? Wie viele Dresdner:innen wissen heute eigentlich von der Vergangenheit an diesem Ort?
Die Firma Radio H. Mende & Co. wurde in der Weimarer Republik gegründet. Für die Produktion von Radioempfängern mietete das Unternehmen ab 1928 Gebäude in der heutigen Meschwitzstraße, damals noch Planitzstraße. Wer genau hinschaut, kann den alten Straßennamen entdecken. Ein unscheinbarer, aber noch gut lesbarer Schriftzug an der Südfassade des kleinen Gebäudes in der Meschwitzstraße/Ecke Königsbrücker Straße erinnert an den früheren Namen. Auf der Hauswand direkt unter dem Dach steht „Planitzstraße” in schwarzen Lettern auf weißem Grund. Dem Dachüberstand ist es zu verdanken, dass der Schriftzug vor direkter Bewitterung durch Regen geschützt ist. Dennoch ist er nicht leicht zu finden und wer weiß, wie lange die Buchstaben noch sichtbar sein werden.
Während des Nationalsozialismus entwickelte sich die Firma zum größten Rundfunkhersteller des Nationalsozialischen Deutschlands. Der Rundfunk stellte für die Nazis ein äußerst wichtiges Instrument zur Verbreitung ihrer folgenschweren Propaganda dar. Einen großen Anteil daran hatte die Firma Mende. Sie produzierte über ein Drittel aller Radios im Nationalsozialismus. Im Zweiten Weltkrieg stellte die Firma Mende die Produktion auf Rüstungsindustrie um. Wie überall in Deutschland herrschte ein Mangel an Arbeitskräften. Die Produktion wurde maßgeblich durch die Ausbeutung von über 400 Zwangsarbeiter:innen möglich. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die Betriebsstätten der Firma Mende vollständig demontiert und gingen als Reparationszahlungen an die Alliierten. Anschließend bezogen Staatsbetriebe die Hallen, darunter der VEB Funkwerk, der die Produktion von Radios wiederaufnahm. 1969 folgte ein Zusammenschluss verschiedener Betriebe unter anderem mit dem VEB Funkwerk, unter dem Namen Messelektronik Dresden. Das Hauptaugenmerk lag auf der Produktion elektronischer Messtechnik für zivile und militärische Zwecke. Nach der Privatisierung 1990 bestand die Messelektronik GmbH noch bis 1997.
Der Dresdner Historiker Holger Starke beschreibt in seiner Veröffentlichung von 1999 „Vom Werkstättenareal zum Industriegelände“ das Gebiet als einen Ort voller Gegensätze aus einem Nebeneinander von modernen Firmenanlagen, brachliegenden Gleisen, maroden Straßen, zerfallenen Baracken und leerstehenden Fabrikgebäuden, die zur „Zufluchtsstätte von Jugendlichen vor dem kommerzorientierten Zeitgeist oder zur Stätte experimenteller Kunstprojekte." (Starke1999.) werden. 2025 hat sich diese Widersprüchlichkeit längst nicht gelegt. Sie wird den Beteiligten an diesem Projekt immer deutlicher. Die Dimension von klanglicher Kontinuität kommt hinzu. Was konnte man hier vor 80 Jahren hören? Was hört man noch immer?
Such- und Bescheinigungsvorgang Nr. 1.154.146 für PARSCHIKOWA, MARIA geboren 16.06.1922
Copy of 6.3.3.2 / 112836042], ITS Digital Archive, Arolsen Archives
Maria Smolenskaja
ERKLÄRUNG
Ich, Smolenskaja / nach der Heirat PARSHIKOVA / Maria Nikiforovna, wurde am 16. Juni 1922 in Gluchov Stadt Sumskaia Oblast' geboren und zusammen mit anderen Bürgern am 10. August 1942 zwangsweise nach Deutschland verschleppt, wo ich in Dresden bis zum 24. Oktober 1942 in einer Fabrik „Radiomende“ arbeitete und mir dann die Flucht gelang, bis zum 21. Januar 1943 wurde ich im Gefängnis Dresden festgehalten, von wo aus ich ins KZ Ravensbruck überstellt wurde. Im Konzentrationslager wohnte ich in der 28. Barack mit der Nummer 16315. Ich arbeitete in der Schneiderei von Meister Opitz. Ich erhielt keine Bezahlung für meine Arbeit. Am 1. Mai 1945 wurde ich von den sowjetischen Truppen befreit.
Ich bitte die Gesellschaft „Memorial“, mich bei der Entschädigung für meinen moralischen, physischen und materiellen Schaden zu unterstützen, der mir durch meine gewaltsame Verschleppung nach Deutschland entstanden ist.
Anlage: eine Kopie der Mitteilung des internationalen Suchdienstes.
Unterschrift______Smolenskaja M.N.
Vorbereitet von der Anwältin der Kanzlei der Stadt Gluchov Lukashova N.A.
16. Oktober 1990
Anfangs wurden Menschen in besetzten Gebieten aufgerufen, sich freiwillig zum Arbeitsdienst in Deutschland zu melden. Mittels Propaganda wurde das Paradies auf Erden versprochen. Mit der Rückkehr der ersten Deportierten und ihren Geschichten endete die Bereitschaft, freiwillig nach Deutschland zu gehen. Ein Problem für die deutsche Kriegswirtschaft, die auf ausländische Arbeiter:innen angewiesen war. Gewaltsame Verschleppungen sind die Antwort. In Razzien aus Wohnungen, im Kino, in Cafes und auf offener Straße werden Menschen gefangen genommen, zum Bahnhof getrieben und in Viehwaggons nach Deutschland deportiert. Das Mindestalter für Zwangsarbeiter:innen liegt erst bei 12, dann bei 10 Jahren. Je nach Herkunft wurden die Zwangsarbeiter: innen in Kategorien unterteilt, ungleich behandelt und versorgt. Grund dafür war die rassistische Ideologie. Sogenannte "arische" Bevölkerungsgruppen sollten überleben. Ukrainer:innen stellten den größten Teil der Ostarbeiterinnen, in der Rassenideologie galten sie als “minderwertige” “Slawen”, gefolgt von Jüd:innen, Sinti:zze und Rom:nja. Ab 1942 wurde ein 2 Jähriger Pflichtdienst für alle Ukrainer:innen im Alter von 18 bis 20 Jahren eingeführt. Es ging dabei nicht nur um wirtschaftliche Interessen, Arbeit wurde zur Vernichtung eingesetzt. Bei der Firma Mende waren vorrangig als Frauen bezeichnete Menschen aus der Ukraine zur Arbeit gezwungen, aber auch Menschen aus Polen, Belarus, Kroatien, Frankreich und Skandinavien. Hunger und Mangel begleitete sie. Es war streng verboten, sich gegenseitig zu helfen, zum Beispiel mit der Weitergabe von Essensrationen. Wenn es überhaupt eine Entlohnung gab, fiel sie äußerst gering aus und diente vorrangig zu Verwaltungszwecken. Der Verwaltungswahnsinn des nationalsozialistischen Systems äußerte sich auch in der Kennzeichnung von Personen. So wurden sogenannte "Ostarbeiterinnen" gezwungen auf ihrer Kleidung den Aufnäher "Ost" zu tragen, polnische Zwangsarbeiter:innen ein "P". Menschen wurden als "zivile Ausländer", "Zivilausländer" oder "Kriegsgefangene" kategorisiert. Dieser Status veränderte sich auch im Laufe des Krieges. Nach dem Krieg waren viele Zwangsarbeiter:innen physisch und seelisch geschädigt. Eine Rückkehr in die Heimat war oft nicht möglich. Entweder weil es keine Verwandten mehr gab oder weil die Angst vor der Verfolgung durch den sowjetischen Staat die Rückkehr verhinderte. Hier drohte erneutes Arbeitslager, Erschießung, die Verdächtigung deutscher Spitzel zu sein oder mit den Deutschen kollaboriert zu haben. Viele ehemalige Zwangsarbeiter:innen lebten nach dem Krieg in Armut und Isolation. Die viel zu späten und geringen Entschädigungszahlungen der Bundesrepublik wurden nur bei Nachweis der Zwangsarbeit gezahlt - dieser Nachweis war oft nicht möglich, da die Dokumente im Krieg verloren gegangen waren oder aus Angst vor stalinistischer Verfolgung vernichtet wurden.
Am 28.Mai 1970 stellt Afanasij Trofimowitsch P. einen Suchantrag. Gesucht wird Vera Podlepitsch, Afanasij‘s Schwester. Über das Sowjetische Rote Kreuz kommt der Auftrag zum Suchdienst Hamburg, Deutsches Rotes Kreuz. Im Oktober liegt er dort auf dem Tisch. „Wir wären Ihnen dankbar, wenn Sie Ihre Unterlagen auf den Verbleib der gesuchten Person(en) überprüfen und uns das Ergebnis mitteilen wollten. Für Ihre Bemühungen danken wir Ihnen im Vorraus.“ im Auftrag Beck. (Quelle: Arolsen Archives 6.3.3.2 / 124110437) Vera Podlepitsch wurde dort vor über 100 Jahren geboren, am 12. Februar 1924. In einem kleinen Ort in der heutigen östlichen Ukraine in der Region Charkiw. Ihren Bruder und ihre Eltern hat sie zuletzt vermutlich an Ihrem Wohnort gesehen. Dieser war Artemowsk, eine Stadt heute bekannt als Bachmut. In Höhlen und unterirdischen Gängen wurde Salz abgebaut. Als die Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg die Stadt übernommen hatte, führte sie in den Schächten Erschießungen durch.
Im Januar 1942 wurden dort 3000 Juden und Jüdinnen von den Nationalsozialisten bei lebendigem Leibe eingemauert. 80 Jahre später greift Russland die Stadt brutal an und nimmt sie schließlich ein. Die Eroberer nennen die Stadt seitdem bei ihrem sowjetischen Namen „Artemowsk“, um ihren angeblichen Gebietsanspruch heraus zustellen. Nach diesem Überfall ist kaum etwas von der Stadt übrig. Jene Gräueltaten hat Vera Podlepitsch. nicht miterlebt. Sie wurde als so genannte Ostarbeiterin schon 1941 nach Deutschland deportiert. Wohin sie gebracht wurde? Am 3. November 1943 fing sie bei der Firma Mende an zu arbeiten. Als Presserin musste sie schwere körperliche Arbeit verrichten. Gefährlich war es obendrein, wenn die schweren Metallplatten mit tausend Tonnen Druck aufeinander knallten. Schon 3 Tage später, am 6. November, wurde sie von der Gestapo abgeholt. Warum?
Fritz Sauckel, der als Generalbevollmächtigter für den Arbeitseinsatz im Nationalsozialismus für Zwangsarbeiter:innen zuständig war, formulierte: Butterbrot- ein Jahr Gefängnis. Kuss- zwei Jahre Gefängnis. Geschlechtsverkehr- Kopf ab. Dennoch waren sexuelle Ausbeutung in den Lagern alltäglich. Deutsche Männer, die dabei erwischt wurden, hatten kaum eine Strafe zu befürchten. Vergewaltigte kamen ins Konzentrationslager oder erhielten die Todesstrafe. Bestrafungen kleiner Vergehen lagen bei der Betriebsführung, bei größeren Vergehen sollte die Polizei eingeschaltet werden. Langsames Arbeiten wurde als Arbeitsbummelei bezeichnet und galt als Sabotage. Widersprechen, Streit, Nicht-Erscheinen oder Zuspätkommen als Arbeitsvertragsbruch. Deutsche Angestellte, die vermeintliches Fehlverhalten meldeten, machten diese Kontrolle der Zwangsarbeitenden möglich. Nach Ihrer Zeit in Dresden ist Vera Podlepitsch in Swinemünde bei einem Bauern. Die letzte Nachricht von ihr erreicht Ihre Familie noch während des Krieges. Ihre Spur verliert sich in Wollin auf der Insel Usedom. Was hat sie durchlebt? Warum konnte Ihre Familie erst 20 Jahre nach dem Ende des Krieges nach ihr suchen? Hatten ihre Angehörigen Angst, dass bekannt wird, dass Vera Podlepitsch bei den Deutschen arbeitete? Wo war Sie in den 2 Jahren von 1941 bis 1943? Warum wurde sie von der Gestapo abgeholt? Warum erscheint Ihr Name 1946 in einem Zeitungsartikel? Hat sie den Krieg und die Ausbeutung überlebt?
Die Antwort des Suchdienstes auf die Frage ihres Bruders lautet: "It's negative."
Wie kam es zu diesem Projekt?
Herzliche Willkommen zu unseren zwei neuen Projekten „Bruchstücke" :: "Nachhall“ . Mit einer audiovisuellen Installationen und einem dauerhaft zugänglichen digitalen Rundgang vermitteln wir unsere Fragen, Erkenntnisse und Wissenslücken. Welche Rolle kann Klang in der Erinnerungsarbeit einnehmen? Besonders bei einem Ort wie der ehemaligen Firma Radio Mende, bei dem Klang und Klangerzeugung historische Kontinuität geworden sind. Unsere Forschungsarbeit mischt sich mit fiktiven Eigenanteilen und künstlerischen Interpretationen. Es ist der Weg, den wir gewählt haben, als Zugang zu den Menschen, von denen sehr wenige Informationen bekannt sind. Unser besonderer Dank gilt Yuliia Didenko, die uns mit ihrem Wissen begleitet hat, ebenso wie Lise Koenig, beide haben ihre Familiengeschichte mit uns geteilt, Tony Milano und Patryk Kujawa, die uns ihre Stimmen geschenkt haben. Martin Engel, der uns großzügig einen Blick in die jüngere Vergangenheit des Geländes ermöglichte. Dank gilt auch dem Objekt klein a, sowie unseren Förderern und dem Arolsen Archiv.
fragmente&frequenzen 2025
Interview mit Lise Koenig von Ronja Sommer
2:21 Minuten
L. Koenig erzählt warum sie bei der Arbeit "Namen nennen" mitgemacht hat und von der Zwangsarbeit ihre Großvaters.
Interview mit Yuliia Didenko von Ronja Sommer
8:58 Minuten
Y. Didenko erzählt von ihrem Zugang zum Projekt und der Zwangsarbeit in ihrer Familiengeschichte.
In einem Brief von Radio Mende an die Heeresbetriebsstelle Albertstadt vom 31. März 1942 heißt es: „Der Mangel an deutschen Arbeitskräften macht es notwendig, dass wir auch russische Kriegsgefangene in unsere Fertigung einbeziehen.“ (Stadtarchiv Dresden, Akte: 4.1.6-220237 + 5.1.1 67). Für die Unterbringung plante die Firma Mende die Aufstellung einer Baracke. Auf einer Skizze ist ihr Standort eingezeichnet und rot markiert worden. Am 25. April 1942 äußerte die Wehrkreisverwaltung IV in einem Schreiben ihre Freigabe des Geländes zur Errichtung der Baracke. Im Lager der Planitzstraße N 15 wurde der Großteil der über 400 Zwangsarbeiter:innen der Firma Mende untergebracht. Insgesamt bot das Lager Platz für 1000 Menschen und auch andere Firmen nutzten es. Nach Anordnung der Geheimen Staatspolizei waren die Menschen in dem Lager dauerhaft zu bewachen. Den Bau der Baracke hatten die Deutschen Werkstätten übernommen. Die Entwicklung genormter Baracken -Typen war zentral organisiert. Für deren Aufbau wurden mehrere hundert Holzbau-Firmen im Deutschen Reich beauftragt, die sich nach den vorgegebenen Typen und Plänen richteten. Die Baracken zur Unterbringung von Zwangsarbeiter:innen wurden in Modulbauweise errichtet. Sie waren dazu ausgelegt, in kurzer Zeit und mit möglichst wenig Aufwand auf- und abgebaut werden zu können. Gegen Kälte boten sie nur wenig oder gar keinen Schutz. Menschen wurden dort auf engstem Raum zusammengepfercht. Ungeziefer plagte sie in der Nacht, Hinweise auf Duschen finden sich keine. An anderen Orten der Zwangsarbeit wurden die Menschen im Hof mit kaltem Wasser abgespritzt, auch im Winter. Selbst wenn es in den Baracken Öfen gab, war Brennmaterial Mangelware. Krankheiten kursierten in den Lagern. Kranke wurden in überfüllte Krankenbaracken gebracht, wo sie meist schnell starben. Denn medizinische Versorgung gab es nicht. Oder sie kamen in sogenannte Heilanstalten, wo die Patient:innen mit überdosierten Medikamenten umgebracht wurden oder von selbst starben. Nach dem Ende des 2. Weltkrieges, wurden die Baracken für Kriegsgeflüchtete umgenutzt. Im Dezember 1945, spendete die Volkssolidarität 600 Betten an das Flüchtlingslager. In einem internen Schreiben an die Transportstelle bittet die Bezirksverwaltung I der Stadt Dresden um einen zügigen Transport und Aufbau der Betten, da die Geflüchteten bisher auf dem Boden schlafen müssten. Es wird betont, dass solche Zustände während der tiefen Temperaturen kaum noch vertretbar wären. Beim Lesen dieses Schreibens entsteht unweigerlich die Frage, worauf hunderte Menschen vorher zu jeder Jahreszeit in den Unterkünften geschlafen haben. Wie konnten sie sich von ihrer Arbeit unter unmenschlichen Bedingungen ausruhen? Auf einem Foto von 1946 ist die Baracke beim Eingang C im Dresdner Industriegelände abgebildet. Kriegsgeflüchtete stehen davor. Es ist kein langer Aufenthalt vorgesehen. Martin Engel, ehemaliger Mitarbeiter der VEB Messtechnik, bestätigt, dass es mehrere Baracken im Umkreis der Meschwitzstraße gab, die alle so aussahen. Eine war zwei Etagen hoch gebaut. Sie stand auf dem Grundstück der heutigen Handwerkskammer. Die Baracken am Sportplatz waren im Nationalsozialismus eine Unterbringung für ZwangsarbeiterInnen, ab 1946 war es ein Umsiedlerlager, während der DDR eine Sportgaststätte am Sportplatz. Engel erinnert sich noch, wie er mit seinen Kolleg:innen dort „eingerückt“ ist: Wo haben die Baracken genau gestanden? Was ist in Ihnen passiert?
Jan Wieczarek Werk V
“Wehrkreisverwaltung IV „Geheim!...V
…betrifft Ausländerausweise W….V
es ist festgestellt worden, dass ausländische Arbeitskräfte beschäftigt werden, ohne im Besitz des Ausländerausweises W zu sein“ Stadtarchiv Dresden 4.1.6-220237 +5.1.1 67V
„Unaufgefordert beim Pförtner vorzuzeigen….stets mitzuführen….Die...Ausweises an Unbefugte ist strafbar….nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses ist der Ausweis zurückzugeben." Hauptstaatsarchive Sachsen 11725 Nr. 13 V
Jan Wieczarek hat den Ausweis behalten. Von der ELMAG Elsässische Maschinenbau GmbH in Mühlhausen hatte er ihn mit nach Dresden genommen. In das Lager in der Planitzstraße 15. Heute liegt er im Hauptstaatsarchiv Sachsen und ist ein Zeugnis seiner Ausbeutung. Jan Wieczarek geboren am 11. Juni 1906 in Koluszki, eine Kleinstadt in Polen in der Nähe von Lodz. Nach dem Überfall Deutschlands auf Polen arbeiteten viele Pol:innen früh als Zwangsarbeiter:innen. Bei der Firma Mende musste er als Hilfsarbeiter Zwangsarbeit leisten. Was genau mussten er und Andere dort tun?
Meist waren es schwere körperliche Arbeiten….
In der Stanzerei oder Presserei…
Auf einem Schemel ohne Lehne hockend, werden Tag und Nacht einzelne Teile geprägt, gestanzt und genietet…
laute, schwere Maschinen…
kalte Hallen..
gefährliche Tätigkeiten in der Galvanik,
Fräsen, 12 Stunden am Tag…
Bakelit bearbeiten
beim Wickeln von Spulen fährt der scharfe Metalldraht stundenlang durch die ungeschützten Hände..,
Unfälle passieren schnell in diesem Umfeld…
In der Spritzerei werden die Geräte veredelt unter elenden Bedingungen...
Transportarbeiten in Schweiß gebadet, nicht gewaschen, schwere Dinge schaffen...
Küchenhilfe - für wessen Nahrung sorgen, wenn die eigenen Sorgen der leere Bauch sind….
zur Ernte herangezogen…fehlten anderen Unternehmen Arbeitskräfte…
mobil eingesetzt, als sollten sie Maschinen sein, statt Menschen mit Leiden….
Das Kapital der Zeit bleibt….
Wo damals Werkzeuge gebaut wurden, werden sie es auch heute…
Im Werk V stinkt es nach altem Geld, nach Moder und Zerfall der Menschlichkeit
Der Tag der Befreiung am 8. Mai 1945 markiert auch das Ende der Ausbeutung durch Zwangsarbeit bei Radio Mende. Die Akten verraten jedoch nicht mehr über das Leben vor, während oder nach der Zwangsarbeit.
Ich bin 16 Jahre alt und Expertin fürs Pressen. Gehäuse, Einzelteile, je nachdem, wo ich gerade hingeschickt werde. Hitze und Druck. Mal Holzgehäuse, mal Bakelit, dieses Kunststoffzeug. Verschiedene Radios für verschieden reiche Deutsche, auch Kriegsgerät für ihre Fronten. Immer pressen. Die Hitze und der Druck machen das Zeug flüssig und formbar, dann wird es hart. Ich muss aufpassen, dass es nicht macht, was es will, sondern in der richtigen Form hart wird – für Geräte, die ich nicht benutzen werde. Andere wickeln Kondensatorspulen, stanzen, prägen, nieten, nach mir kommt noch Montage, Prüfung, Verpackung.
In meinem „Arbeitsbuch für Ausländer“ steht von Anfang an, ich hätte „deutsche Sprachkenntnisse“, ich glaub das steht bei allen, egal, ob es stimmt. Meine deutschen Sprachkenntnisse kann ich hier erweitern mit schönen Wörtern wie „Arbeitsamt“, „einwandfrei“, „Apparat“, „zweckmäßig“, „Entlausung“. Oh, ihr kennt vielleicht den„Volksempfänger“, aber das Ding, woran ich gerade mitbauen muss, heißt MS172-W, nichtssagender Titel. Bester Produktname, hatten wir neulich: „Deutscher Kleinempfänger“, kurz „DKE“. Den gibt‘s zum Beispiel im „Sparmodell ohne Entbrummer“. Die Deutschen müssen Rohstoffe sparen. Oder auch mal ohne „Siebdrossel“, dafür wird dann der Widerstand runtergesetzt – was weiß ich, damit habe ich in der Presserei nichts zu tun. Pressen, Hitze, Druck, „in Form bringen“, „Hochglanz“. Auf dem Weg zu den „totalen“ Deutschkenntnissen.
Ach, lasst mir wenigstens meinen düsteren Humor, was soll ich machen.
Davor war ich Expertin für den „Kreis der Familie“, in dem das einwandfreie Mende Radiogerät am Ende steht. Mit 15 Jahren kam ich in den ersten „Haushalt“ und dann noch in einen anderen. Ich weiß nicht, ob ich Glück gehabt habe mit „meinen“ Familien, für die ich Mädchen für alles war? Die einen waren netter als die anderen. Ist es Glück, wenn sie einen nicht ganz so misshandeln wie sie könnten? …Man ihnen sozusagen ein bisschen angenehmer ausgeliefert ist?
Paraska, die neben mir „presst“, sie ist schon 20, war zwischendurch „Hausgehilfin“ bei einem Fabrikdirektor, Philipp Günther – sie hat gewitzelt, man weiß nicht, was der Vor- und was der Nachname ist. Irgendwo in der Nähe von Dresden, Klotzsche oder so. Und dann musste sie noch ein paar Wochen bei einem Fischgroßhandel „helfen“. Von beidem hat sie nicht so richtig was erzählt – wann auch. Etwa spät abends in der Baracke, wo wir nur noch erschöpft umfallen? Und vielleicht will oder kann sie auch nicht. Was man da wohl machen muss für so‘nen Fabrikdirektor. Hat er sie ausgesucht, und warum kam sie dann wieder hierher zurück? Was sie wohl erlebt hat?
Hoffentlich müssen meine Kinder nicht mehr in deutschen Haushalten, dem deutschen Haushalt, „helfen“. Werde ich welche haben? Ich stelle mir meine zukünftigen Kinder Zuhause bei Schebekino vor. Vielleicht leben wir dann wieder da. In Russland, so nah an der Grenze zur Ukraine, die jetzt an der russischen Invasion leidet. Auch unser Dorf ist davon betroffen, leer, kaputt. Das deutsche Wort „kaputt“ kennen alle. Aber was sind das für Fantasien. Erstmal überleben. Erstmal weiterarbeiten, Hitze, Druck, MS150-GW flaches Gehäuse, MS150-GW gewölbtes Gehäuse. Aufpassen, mich nicht zu verletzen und alles ordentlich zu machen, sonst...
Es ist hier so, wie es auf deutsch und russisch auf meinem „Verpflichtungsbescheid“ stand, der mich nach Deutschland zwang: „Nichterscheinen wird nach den Kriegsgesetzen bestraft.“ Erscheinen auch.
Ich denke an dich Sascha, meine Liebe. Wo bist du jetzt? Werden wir uns wiedersehen? Ich verspreche dir, sie kriegen mich nicht „kaputt“. In den dunkelsten Momenten fällt mir das Lied ein, das wir gesungen haben, ich hab es noch im Ohr: „Расцветали яблони и груши…“
Das war ein fiktiver Text.
Natalia M., geboren 1927 „genaues Geburtsdatum nicht feststellbar“ aus dem Kreis Schebekino, war vom 26.10.43 – 8.5.45 „Presserin“ bei Mende, davor "Hausgehilfin" in mindestens 2 Dresdner Privathaushalten (bei Fam. Hähnel, Güntzstraße und bei Pietsch, Oppellstraße). Sie wurde 1942 zur "Hausarbeit" in Deutschland „verpflichtet“. Wegen noch laufender Schutzfristen einiger Radio Mende-Akten im Hauptstaatsarchiv dürfen die Fotos hier nur mit geschwärztem Nachnamen verwendet werden.
Ich bin aus Mahagoni! So sagt man sich gern. Ich habe Glanz, Stil und Eleganz. Eben so, wie es sich für einen Tisch im Vorzimmer des erfolgreichsten Radio-Herstellers der deutschen Geschichte gehört. Jedes dritte Radio im Deutschen Reich kam aus diesen Fabrikhallen! Das Gaudiplom ging über meinen Rücken, der ist glatt und dunkel. Getragen von zwei großen Bäuchen, mit dicken Türen versehen, um alles Wichtige unter Verschluss und doch griffbereit zu haben. Auf acht geschwungenen Füßen stehe ich und tue das noch heute. In den letzten 90 Jahren ist viel über mich hinweggegangen. Ich bot die Unterlage für Blätter, die über Leben entschieden haben. Der Martin Mende war stolz auf seine Firma, als hätte er selbst geschuftet bei eisiger Kälte und mit nix im Bauch als kalter Brühe und einer Scheibe Brot am Tag. Dafür war sein Bauch aber viel zu groß und das Gewicht seiner Hände spüre ich noch, wenn er sich mal auf mich stütze um mir über die Schulter zu gucken. Er wollte immer alles wissen, alle sollten spuren. Stramm haben sie gestanden, die Lehrlinge. Für den kleinsten Fehltritt gab es Strafe. Der Mende war ja auch bei der Nordischen Gesellschaft. Auch ein Propaganda-Instrument, um die angebliche Überlegenheit der nordischen Rasse zu verbreiten. Da wusste man nicht, mit wem man es zu tun bekommt. Der Tostmann hat mal in der Zuschneiderei, hier im Werk V, geraucht. Dann hat er auch noch den Werkschutzmann beleidigt und seinen Namen nicht genannt. Einmal rauchen- ein halber Tageslohn weg. Und als Nächstes kommt die Gestapo. Kündigen konnte man auch nicht einfach so, das wurde schon mal abgelehnt, dann hieß es weiter von 5 Uhr morgens bis mittags durcharbeiten. Ohne Frühstück versteht sich. Auf „Empfehlung“ des Betriebsführers sind einige der Zwangsarbeitenden und deutsche MitarbeiterInnen in Konzentrationslager geschickt worden. “Martin Mende spielt ungerührt von den Vorkommnissen den starken Mann. Er beglückwünschte seine Gefolgschaft mit den angeblichen Kulturwerten einer NS-Bücherei, einer NS-Werkszeitung. Im letzten Augenblick, als sein längst fälliger Thron ins Stürzen geriet, schienen ihm doch Zweifel über den Wert seiner Tätigkeit für die Menschheit gekommen zu sein. Daher verbrannte er schleunigst eigenhändig alle Papiere und Unterlagen.” so die Sächische Zeitung 1946. Geschadet hat ihm das aber nicht, in Bremen konnte er nach dem Krieg die Firma Nordmende gründen und wieder Radios produzieren lassen - komischer Zufall mit der Nordischen Gesellschaft, oder? Der Mende-Betrieb geht dann in die Volkshand über, so heißt es. Ich bleibe hier stehen und die wichtige Entscheidungen laufen immer noch über meinen Rücken. Irgendwann wird dann mal ausgemistet. Ich werde für 50 Mark verkauft und stehe jetzt immer noch in Dresden. Ein ehemaliger Mitarbeiter des VEB Robtron- Messelektronik hat mich gekauft. Ein Ölgemälde mit der Frauenkirche hängt jetzt über mir.
Auf dem Gelände sind drei Luftschutzbunker bekannt. Diese wurden durch die Angriffe der Alliierten zum wichtigen Schutzraum um zu überleben, aber sie waren den deutschen Arbeiter:innen vorbehalten und Rüstungsbetriebe ein bevorzugtes Ziel der Bombenangriffe. Bei einigen Zwangsarbeiter:innen ist vermerkt, dass sie nach den Bombenangriffen am 13.02.1945 nicht mehr zur Arbeit erschienen sind. Ob sie in den Flammen umgekommen sind oder die Flucht ergriffen haben, ist nicht geklärt.
Warme braune Augen, von kleinen Lachfältchen umspielt. Der Blick offen und selbstbewusst. Auf der hohen Stirn erhebt sich kurzes, dunkles, glattes Haar, das der Erdanziehung zu trotzen scheint, wie der Blick von Hieronim Szymczyk. Die leicht abstehenden Ohren, der fast unmerklich nach vorne gebeugte Oberkörper lassen einen aufmerksamen Zuhörer vermuten. Ein fröhliches Gesicht, das vom Lächeln des großen Mundes bestrahlt wird. Leicht geöffnete Lippen, eine Reihe gerader Zähne blitzt hervor. Das Hemd steht einen Knopf weit offen und hat auf der Brust mehrere Stoffverzierungen eingenäht. Ein Hemd zum Arbeiten? Das Bild eines lebensfrohen Menschen. In sich ruhend, gespannt auf das, was kommt? Naivität lässt sich keine finden in diesem Gesicht. Oder ist es eine widerständige Haltung, sich die Freude nicht nehmen zu lassen? Ein Mundwinkel leicht hochgezogen, erzählt von einem Wissen, das der Person auf der anderen Seite der Kamera verborgen bleibt, aber dem Abgebildeten eine Überlegenheit verleiht.
Ein Jahr nach der Aufnahme des Fotos ist Hieronim Symczyk tot. So schwer ausgebeutet und zusammengeschlagen wurde er, dass er sich im Alter von 38 Jahren das Leben nahm. Er ist auf dem Johannisfriedhof in Dresden zusammen mit 65 anderen ZwangsarbeiterInnen beigesetzt.
Hieronim Szymczyk wurde am ersten Juli 1905 in Lodz geboren. Im Zentrum des Landes gelegen, ist es heute die viertgrößte Stadt Polens. Damals ein wichtiger Industriestandort der Textilbranche. Das Manchester von Polen war eine Migrationsgesellschaft, viele Russen und Deutsche lebten dort. Auch eine große jüdische Bevölkerung. Durch die wirtschaftliche Dauerkrise waren Armut und Elend unter den ArbeiterInnen verbreitet. Im Ersten Weltkrieg umkämpft und im Zweiten von den Deutschen besetzt, wurde die Stadt kurzzeitig in Litzmannstadt umbenannt.
Wie sah die Jugend von Hieronim Szymczyk in dieser Stadt aus? Das Getto von Lodz war eines der Größten im Nationalsozialismus. Die hier eingesperrten Juden und Jüdinnen mussten Zwangsarbeit leisten und wurden nach Auschwitz deportiert. Als Hieronim Szymczyk zu Radio Mende kam, bestand dieses Getto schon 2 Jahre. Er selbst war kein Jude und musste in Deutschland arbeiten. Am 13. Mai 1942 fing er bei der Firma Mende in der Stanzerei an, im Werk V. Dann arbeitete er in der Zuschneiderei, kurz darauf wieder in der Stanzerei. Anschließend wurde er ein Jahr in der Galvanik als Hilfsarbeiter eingesetzt. Der Ort, an dem giftige Dämpfe die Luft und den Boden verpesten. Diese Stoffe lagern noch immer tief im Erdreich unter dem Gelände. Die Ausbeutung, schlechte gesundheitliche Versorgung, Zwang und Gewalt haben ihm die Luft zum Atmen genommen. Er war in keinem Konzentrationslager, aber Zwangsarbeit im Nationalsozialismus sollte ihn, wie viele andere auch, durch Arbeit vernichten. Das Zeugnis dieser Verbrechen ruht hier, so wie Hieronim Szymczyk, der seine Heimatstadt und seine Familie nicht wieder gesehen hat.
Gesang / Text / Konzept: Rosa Klee
(mit Ausschnitten des Interviews von R.Sommer/A.Thum mit Martin Engel)
„Die zentrale Produktionsleitung war im hinteren Gebäude, rechts oberhalb der Seufzerbrücke. Die Seufzerbrücke ist das Ding, was dort über den Durchgang rübergeht. [...]Dort war auch Mende sein original Arbeitszimmer, war dort noch in der ersten Etage. Da hat der Produktionsdirektor Gottfried Kepler... saß in Mende seinem Zimmer, holzgetäfelt. Gottfried Kepler hatte den Spitznamen Stalin.“ - „Warum?“ - „Weil er sich so aufgeführt hat“. [...] „Dieses Ding hier hat den Beinamen Seufzerbrücke.“- „Warum?“ - „Wenn von Technologen oder von der Fertigungsvorbereitung jemand zum Produktionsleiter bestellt wurde, weil irgendwas ni geklappt hat, irgendwas ni funktionierte, irgendein Anschiss abzuholen oder so, dann ist der Kollege mit dem entsprechenden Seufzer halt über diese Brücke gegangen. Ja, also es vermischt sich ganz vieles mit Legende und mit Mutmaßungen.“
Wie immer in der Geschichte. Geschichte ist immer beides: was passiert (ist), und auch das, was darüber erzählt wird. Beides geht ineinander über und beides ist durch Herrschaftsverhältnisse strukturiert. Geschichte ist nicht ein Zeitstrahl mit voneinander getrennten feststehenden Daten. Erst war hier Zwangsarbeit, SPRUNG dann war VEB Funkwerk SPRUNG jetzt ist heute. Wo sind die Entwicklungen, Konflikte, kollektiven und individuellen Entscheidungen, die Parallelgeschichten ‘von unten’ oder an anderen Orten; wo ist das Dazwischen, wo sind die Verbindungen, die Beziehungen, die Brücken? Wir machen Geschichte. Nicht nur die Gegenwart oder die Zukunft, sondern auch die Vergangenheit. Wir machen Geschichte, indem wir sie interpretieren, bestimmte Geschichten erzählen, andere nicht. Indem wir sie lesen mit unserem gegenwärtigen Blick. Wir können Möglichkeiten im Vergangenen aufspüren und betrauern, die es auch gegeben hätte, die sich aber nicht realisiert haben. Möglichkeiten, die es vielleicht immer noch gibt oder erst noch geben könnte. Welche zeitlichen und räumlichen Brücken wollen oder müssen wir spannen? Welche Brücken wollen oder müssen wir abbrechen?
Hier soll eine Geschichte der Seufzerbrücke erzählt werden.
Zu DDR-Zeiten hatte sie diesen Spitznamen wohl, weil man da zum Chef muss. Zu NS-Zeiten musste man durch sie zum Tisch. Wahrscheinlich wurden dort Entscheidungen über Leben und Tod getroffen. Es wäre unangebracht, da bloß von “Seufzen” zu sprechen, das ja heute auf deutsch eher harmlos klingt. Heute: Party People und sexy Salon. Wieder anderes Seufzen. Wir könnten seufzen, weil das alles so schwere Themen sind. Ein bisschen Humor vielleicht? Ohne den Ernst der Gegenwart, den (Wieder-)Aufstieg des Faschismus zu vergessen?
Kennt ihr die Gruselsage von der “Seufzerbrücke” aus Berlin Köpenick? Eine Prinzessin und ihr Geliebter sollen dort ermordet worden sein, darum jede Nacht herzzerreißendes Seufzen, jahrhundertelang. In Venedig gibt es auch eine “Seufzerbrücke”, die Ponte dei sospiri– ab 1600 gebaut als Verbindung zwischen Justiz und Knast, zwischen Gericht und Hinrichtung. Jaques Offenbach schreib 1861 eine witzige Operette, die “Seufzerbrücke” heißt, Le pont des soupirs. Eine Art Seufzerbrücken-Seifenoper. Spielt in Venedig im 14. Jahrhundert, als es diese Brücke überhaupt noch nicht gab. Egal. Eine weitere Brücke könnte man schlagen zwischen Ponte Dei Sospiri und Religion als “Seufzer der bedrängten Kreatur”. Die Dresdner expressionistische Künstlergruppe “Brücke” wiederum fand, “Brücke” „sei ein vielschichtiges Wort, würde kein Programm bedeuten, aber gewissermaßen von einem Ufer zum anderen führen“. Genau, auf zum anderen Ufer! Nun. Welche Epoche kann musikalisch am schönsten seufzen? Der Barock. Da freut sich der Dresdner. Aaaach ja, der Barock. Wie schön! Der Barock ist ja in Dresden zuhause - oder umgekehrt - wenn auch vielleicht nicht im Industriegelände. Naja. Wie gesagt, räumliche und zeitliche Brücken.
Die Seufzerbrücke singt heute eine berühmte Barock-Arie, um ihr Leid zu klagen, in der Hoffnung, verstanden zu werden. Etwas Empathie, bitte: Wie würdet ihr euch fühlen, wenn all diese Geschichte (literally) durch euch hindurchgegangen wäre? Hättet ihr nicht auch ein flaues Bauchgefühl? Wie kann eine Brücke Haltung zeigen?